Sonntag, August 20, 2006

Heimat ist Utopie


Der Mensch geht nicht mehr durchs Leben, er hastet. Im modernen Alltag beschleunigen Körper und Geist immer rasanter, bis sie hochgetuned, im Einklang mit ihren technischen Prothesen schwingen. Fortbewegung in schnellen Transportmaschinen lassen ein Verweilen an einem Ort nicht mehr zu. Man bleibt im Jetzt – mit Blick auf Morgen – ohne zurück zu schauen.
Die Welt ist klein, ein Dorf gar, und dennoch ist die Reise nie zu Ende, man kommt nie an.
Moderne Kommunikationsgeräte nehmen sich des Geistes an. Internet und Mobiltelefon lassen den „realen“, körperlichen Raum verschwinden und schaffen als Ersatz eine temporäre Kommunikationsblase, die Anwesenheit und Nähe nur simuliert. Die Menschen entfremden sich zunehmend vom Ort, in dem ihre Körper leben. Und somit von den Körpern selbst.

Angesichts dieses Gefühls der Ent-Ortung, die der Mensch in globalisierten Zeiten empfindet, stellt sich die Frage nach einem Verbleib des Ortes generell – und dem Verbleib des kontemplativen, stillen Ortes im Speziellen. Möglicherweise ist die Heimat so ein Ort.
Inmitten einer sich immer schneller drehenden Welt, scheint „Heimat“ eine Insel ohne Zeit zu sein. Dieser Platz ist individuell verschieden. Für manche ist die Heimat im Schwarzwald, für manche in Berlin, für wieder andere ist sie eine Kleinstadt in Franken. In den meisten Fällen ist Heimat noch kleiner und zeigt sich in Form markanter Eckpunkte, einer Straße, einer Schule oder Geschäfts. Doch existiert dieser Ort tatsächlich?
Bei genauer Betrachtung ist Heimat eigentlich kein echter Ort. Jedenfalls kein konkreter Platz zum Sehen und Anfassen. Genau genommen ist es vielmehr umgekehrt: Heimat „fasst an“. Sie ist, obwohl immer wieder auf Orte bezogen, ein Nicht-Ort. Heimat ist Kindheit, Sicherheit, eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war. Cowboy und Indianer. “Wetten dass…?” mit den Eltern und Geschwistern in Wohnzimmer. Biene Maja. Gute-Nacht-Geschichten. Legoburgen und Weltraumstationen.
Diese Zeit existiert nur noch in unserer Erinnerung – daher ist Heimat Utopie. Sie versinnbildlicht ein utopisches Sich-Verzehren und Sich-Sehnen nach einem vergangenen Zustand, der einmal war oder für etwas steht, das fehlt. Heimat als Sehnsuchtsbezirk, der vorrangig durch das Gefühl des Verlustes, des Heimwehs, spürbar wird.
In diesen utopischen Ort kann nur unser Geist reisen. Unserem Soma bleibt die Rückkehr zum Planeten Heimat verwehrt. Allerdings benötigen wir noch die Sinne für die schöne Immersion. Geschmack, Gehör und Geruch fungieren als Portale, die direkt zum Ort der Heimat führen. Ein Stück Apfelkuchen im Mund erinnert uns an die Backkünste unserer Oma – und plötzlich: sitzen wir wieder in ihrer Küche mit dem alten Kachelofen und sind wieder acht Jahre alt. Oder der Wind treibt den Geruch von verbranntem Gummi in unsere Nasen – und plötzlich: sind wir wieder fünfzehn und hinterlassen mit unseren Mofas schwarze Reifenspuren auf dem Asphalt.

Accompanying text to the exhibition "Wurzelbehandlung", published September 2005

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