Sonntag, Juni 17, 2007

Die Welt macht dick



In den Deichtorhallen spielen sich merkwürdige Szenen ab. Aus der Sofalehne ragt ein menschliches Bein. Stühle werden ihrer Funktion enthoben und wie ausgefallene Accessoires um den Leib geschlungen. Köpfe verschwinden in einer winzigen Holzhütte. Die Gliedmaßen, die hier so genüsslich mit Alltagsgegenständen verwachsen, gehören den Ausstellungsbesuchern der Erwin-Wurm-Retrospektive. "One Minute Sculptures" heißen diese Verrenkungen und ungewöhnlichen Positionen, die schließlich auf einem Foto festgehalten werden. Ende der 90er-Jahre initiierte Wurm ganze Serien dieser temporären, performativen Skulpturen. Achtung - hier wird ein vermeindlicher Widerspruch zelebriert, der die traditionelle Vorstellung von der Dauerhafigkeit der Skulptur in Frage stellt. Wurm schenkt ihr eine zeitliche Komponente und setzt die Skulptur so bewusst dem Scheitern aus, denn die Körper, die sich hier im Reigen mit allerlei Obst und Gemüse akrobatisch verbiegen, können nicht lange so verharren. Unter den Handlungsanweisungen des Meisters werden Individuen zu Darstellern, die im alltäglichen Leben nicht alltägliche Gesten vollführen müssen. Er macht sie zu Antihelden, deren Unzulänglichkeiten auf die Spitze getrieben werden. Das Festhalten des flüchtigen Moments - meist in einer Fotografie - verleiht diesem schließlich doch Dauerhaftigkeit und macht ihn in dieser Hinsicht einer klassischen Skulptur ähnlich.
Betrachtet man die Inszenierung des Körpers in den Arbeiten des Österreichers, so scheint es, als sei er seiner definierten , festgelegteen Form überdrüssig. Die Lösung liegt für Wurm in dessen Neuerfindung. Aufgeblasen, verwachsen, gebogen, transformiert - so begegnen dem Betrachter daher die Körper in Oevre Erwin Wurms, zum Beispiel das FAT HOUSE. Wie ein riesiger, zerfließender Käse steht es mitten in der Ausstellungshalle. Es hat sich vom festen, in einen flüssigen Aggregatzustand begeben. Aus der Form geraten, stellt das üppige Gebäude den kleinbürgerlichen Traum eines Eingamilienhauses dar, das genau wie seine Bewohner satt und selbstzufrieden wirkt. Wer dem Haus einen Besuch abstattet, wird Zeuge seines Seelenlebens: In einem Video, das Wurm 2003 produzierte, lässt er das fette Haus mit monotoner Stimme über das Verhältnis von Kunst und Architektur und seinen eigenen Status als Skulptur philosophieren.
Zum vollschlanken Haus gesellt sich das FAT CAR als weiteres übertrieben gezeichnetes Statussymbol. In hochglanzpoliertem, rotem Lack steht es da und parliert, in einem dazugehörigen Video über Drogen, Gewalt, Gott und das Leben. Plattitüden, aber auch konkrete Feststellungen über "fette" Firmen, Mächte, Städte - Metaphern Wurms für gescheiterte, gesellschaftliche Entwicklungen.
Auch der "Künstler, der die Welt verschluckte" ist fett. Er versucht sich die Welt anzueignen , indem er sie sich einverleibt, eine Versinnbildlichung des unstillbaren menschlichen Wissenshungers. Zusätzlich persifliert diese Arbeit die Künstliche Begabung, die Realität transformieren zu können. Eine weitere Skulptur, "Der Künstler, der die Welt verschluckte, als sie noch eine Scheibe war", spielt auf historische Wissensentwicklung an und lässt hier die den häufig aufblitzenden anthropologischen Ansatz Wurms erkennen.
Seine Kleiderskulpturen, die er Anfang der 90er Jahre anfertigte, stellen den Körper konkret infrage, machen ihn als Formgeber obsolet. Die über Blechröhren und Sockel gezogenen Hosen und Pullover definieren das Bild vom Körper neu, indem sie andere Oberflächen als die menschlichen, bekleiden. Auch die Staub-Arbeiten spielen mit körperlicher Präsens und Fiktion gleichzeitig. In leeren Vitrinen markieren feine Staubschichten, wo Objekte gestanden haben. Fehlt hier die eigentliche Skulptur? Nein, sie ist da, ersetzt als Imagination den materiellen Körper.


CHRISTIANE OPITZ


Erwin Wurm:"Das lächerliche Leben eines ernten Mannes, das ernste Leben eines lächerlichen Mannes" - Retrospektive, Deichtorhallen; bis 2.9.


Foto: ERWIN WURM, VG BILD-KUNST

Published in SZENE-HAMBURG June 2007